Etappen

77. 22.10.2005
Palas de Rei - Arzua

 

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81. Santiago de Compostela - (Ruhetag)

Hospedaje La Tita Mittwoch, 26. Oktober 2005

0 km / 0 h
Santiago de Compostela (Ruhetag)
Heute sitze ich schon bereits um neun Uhr ganz alleine in der Kathedrale. Ich habe genug Zeit, über mich und meinen Weg nach zu denken. Habe ich mich auf dem Weg verändert? Das kann ich so nicht beantworten, da muss ich zu Hause meine Frau und meine Kinder fragen. Was habe ich gelernt? Aus zahlreichen Gesprächen mit anderen Pilgern habe ich zum Beispiel gelernt, dass der Jakobsweg keine Probleme löst! Einige Pilger sind auf den Weg gegangen, weil sie grössere Probleme haben, Scheidung, Todesfall von engsten Familienangehörigen, schwere Krankheit, Konkurs usw. Diese Probleme werden für einige Zeit auf dem Weg verdrängt, werden aber in Santiago wieder präsent! Aber man lernt, besser mit den Problemen umzugehen. Man findet bei anderen Mitpilgern immer ein offenes Ohr, erhält Tipps und Mut die Probleme anzugehen. Man lernt sich besser kennen, lernt seine eigenen Grenzen aber auch seine Fähigkeiten. Das hilft enorm. Und es entstehen auch Freundschaften! Habe ich über meine Zukunft nachgedacht? Eigentlich nicht. Auch bin ich nicht wegen irgendwelchen Problemen auf den Weg gegangen, sondern in erster Linie um eine Auszeit zu nehmen (siehe „über mich“). Dieses Ziel habe ich voll erreicht. Ich habe gelernt, mich auch über einfache Dinge zu freuen. Freizeit und Familie hat für mich nun den grösseren Stellenwert als Beruf und Karriere.
Welche Höhepunkte habe ich in den letzten gut elf Wochen erlebt? Es gibt doch keine Höhepunkte, wenn jeder Tag gleich ist, früh aufstehen, den ganzen Tag wandern, duschen, Nachtessen und früh schlafen gehen. Immer das gleiche, ist doch langweilig! Nein, der Jakobsweg ist nicht so, nicht wie Strandferien im Fünfsterne Hotel. Jeder Tag ist anders, speziell und hat seinen eigenen Charakter. Jeder Tag ist etwas Besonderes! Es ist jeden Tag spannend, Neuland zu betreten, unbekannt wo man am Abend landet! Wen trifft man? Wie geht es mir am Abend? Man lernt in der Gegenwart zu leben, den Moment zu geniessen.
Höhepunkte kann ich viele erwähnen. Die ersten Etappen mit meinem Sohn Patrick, der rührende Abschied von meiner Familie, die heissen und strengen Tage vor und nach Le Puy, die einsame Gegend bei Domain du Sauvage und im Aubrac mit dem rauen Klima, das kulinarische Südfrankreich. Was gibt es besseres als nach einer strengen Etappe in der Gascogne eine hausgemachte Leberpastete, ein schmackhafter Coq au Vin mit buntem Gartengemüse, würzigen Weichkäse begleitet von einem gehaltvollen Madiran zu erhalten?
Oder die eintönige Landschaft der Meseta mit deren Spiritualität, die lebhaften Städte in Spanien wie Pamplona, Logroño, Burgos, Léon oder die unterhaltsamen Abende, interessante Gespräche mit Pilgern aus der ganzen Welt, die ländliche Gegend von Galizien, die Klimaunterschiede und ganz speziell, die Ankunft in Santiago sind alles beeindruckende Erlebnisse, ja echte Höhepunkte, die in dieser Intensität nirgends sonst erlebt werden können.
Nach einiger Zeit verlasse ich die Kirche und wen sehe ich da? Natalie, die junge in Australien wohnhafte Irin, mit dem gebrochenen Arm ist soeben in Santiago angekommen. Sie strahlt auch jetzt wie immer eine grosse, natürliche Lebensfreude aus. Am Mittag verabrede ich mich mit ihr und Bermuda Joe, um nach der Pilgermesse gemeinsam Mittagessen zu gehen. In einem gemütlichen, familiären Lokal, welches mir mein Bruder empfohlen hat, lassen wir es uns wohl ergehen. Natalie erzählt uns, wie sie die letzten 220 Kilometer mit dem Gipsarm geschafft und nie aufgegeben hat. Eine grossartige Leistung!
Am Nachmittag besorge ich noch einige Souvenirs und Geschenke für meine Familie. Noch ein paar Fotos, denn heute ist der erste sonnige und wolkenlose Tag hier in Santiago. Auch das Holländer Ehepaar mit den riesigen Rucksäcken und dem Hund, sowie die drei Franzosen Genevieve, Nadine und Alain, die ich bereits in Frankreich und bis hier immer wieder gesehen habe, sind heute in Santiago eingetroffen.
Die Zeit hier vergeht schnell, viel zu schnell, schon wird es Abend. Der letzte Abend hier verbringe ich mit Bermuda Joe. Einen letzten Besuch der Vinothek und ein eher einfacheres Nachtessen in einer Altstadtkneipe bilden den Abschluss von den speziellen und intensiven Tagen hier. Am Schluss verabschiede ich mich von Joe und wünsche ihm alles Gute für die lange Heimreise.